Jede und jeder hat das Recht auf ein selbstbestimmtes und inklusives Leben.
So lauteten das Thema und die Kernaussage der Konferenz “Europe in Action 2019” in Vilnius, Litauen.
Ca. 240 Menschen aus 30 verschiedenen Ländern kamen, um die Situation von Menschen mit intellektuellen Behinderungen in den jeweiligen Ländern Europas zu besprechen. Sie tauschten ihre Erfahrungen, Erfolge und Wissen aus.
Nach einer schwungvollen Eröffnung durch das „Colour Orchestra of VSA Lithuania ‚Guboja‘„, hießen Linas Kukuraitis, Minister für Soziale Sicherheit und Arbeit in Litauen, Jyrki Pinomaa, Präsident von Inclusion Europe und Dana Migaliova, Viltis-Präsidentin alle Teilnehmenden, Referentinnen und Referenten, sowie Selbvertreterinnen und Selbstvertreter willkommen.
„Die Konferenz soll uns einen Schritt näher zu Gleichberechtigung und Inklusion bringen und leistet damit einen wesentlichen Beitrag für eine demokratische Gesellschaft – eine Gesellschaft mit besseren Lebensbedingungen für alle.“
Linas Kukuraitis, Minister für Soziale Sicherheit und Arbeit in Litauen.
„Bei dieser Konferenz geht es darum zuzuhören, miteinander zu reden, Erfahrungen auszutauschen und von einander zu lernen.“
Jyrki Pinomaa, Präsident von Inclusion Europe.
„Die Stimme der Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter zählt. Ihre Erfahrungen und Träume müssen berücksichtigt werden. Diese Konferenz dient somit als einmalige Möglichkeit für Selbstvertretungsgruppen von Menschen mit intellektuellen Behinderungen, Beiräten oder einzelnen Personen mit Unterstützung ihre Erfahrungen, Best Practice Beispiele und alltägliche Herausforderungen zu teilen und zu diskutieren.“
Dana Migaliova, Präsidentin of „Vilitis“ – Welfare Organisation von Menschen mit intellektuellen Behinderungen in Litauen.
„Es geht um Menschen, die über ihre Herausforderungen sprechen. Es geht darum, dass wir gehört werden, Entscheidungen treffen und Rechte haben.“
Video-Nachricht von Robert Martin, Mitglied des UN-BRK-Rates, Neuseeland
- v.l.: Elisabeta Moldovan und Übersetzerin, Linas Kukuraitis, Jonas Ruškus und Jyrki Pinomaa
Selbstbestimmung und inklusives Leben aus unterschiedlichen Perspektiven
Die Konferenz bot eine Vielfalt an Workshops und Plena, um das Thema „Selbstbestimmung und inklusives Leben“ aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Das vollständige Programm kann hier abgerufen werden.
Lebenshilfe-Selbstvertreter Andreas Zehetner nahm an der Konferenz teil und berichtete über seine Erfahrungen (Barrierefreiheit in Vilnius, Plenarsitzungen, einzelne Workshops, persönliche Begegnungen und der Wahl des EPSA-Präsidenten): Bericht von Andreas Zehetner.
Sprecherin und Sprecher der 1. Plenarsitzung:
- Elisabeth Moldovan: Selbstvertreterin aus Rumänien
- Jonas Ruškus, Ausschussmitglied der UN-BRK in Litauen
In Rumänien werden Menschen mit Behinderungen in Institutionen mehr gefördert als wenn sie selbstbestimmt leben. Dadurch entsteht Abhängigkeit und Autonomie wird nicht gefördert. Eine Deinstitutionalisierung ist also sehr wichtig. Elisabeth Moldovan erinnert daran wie wichtig Selbstvertretung ist. Selbstvertretung bedeutet seine Meinung zu äußern. Dadurch können Veränderungen in der Politik und in der Gesellschaft stattfinden.
Ein großes Problem für ein selbstbestimmtes und inklusives Leben sind weiterhin strukturelle Diskriminierungen. Besonders herausstechend sind 1) die Darstellung von Menschen mit Behinderungen als bemitleidenswerte und arme Personen und 2) das medizinische Modell, um Behinderungen und „Unfähigkeiten“ zu messen.
Schwerpunkt Litauen
Sprecherinnen und Sprecher der 2. Plenarsitzung:
- Dainius Pūras: Direktor des Monitoringsinstituts für Menschenrechte; UN-Sonderberichterstatter zu Recht auf Gesundheit; Begründer von Viltis, Litauen
- Dovilė Juodkaitė: Präsident des Litauischen Behindertenforums; Beirats-Mitglied des Europäischen Behindertenforums, Litauen
- Agneta Skardžiuvienė: Ombudsperson für Gleichstellung in Litauen
- Justas Džiugelis: Mitglied von Seimas, Litauen
- Harry Roche: Vorstandsmitglied von Inclusion Europe; Mencap, Vereintes Königreich
Litauen hat in den 1990er Jahren auf beeindruckende Weise die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorangetrieben. In den letzten Jahren hat sich das jedoch verändert. Das liegt vorrangig an Problemen im System und auch an der zu häufigen Verwendung von medizinischen Modellen, um Behinderungen zu begutachten und einzustufen.
2016 gab es in Litauen eine Reform, in der die nationalen Rechte an die UN-BKR angepasst wurden. Positiv zu vermerken ist, dass neue rechtliche Institutionen errichtet wurden, die vor allem ein selbstbestimmtes Entscheiden ermöglichen. Leider gibt es noch viel zu tun und die Reform hat nicht so viel bewirkt wie erwünscht. Noch immer werden viele Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen ihres Lebens bevormundet. Außerdem wurde die Reform nicht adäquat vorbereitet. Wichtige Entscheidungsträgerinnen und -trägern sind daher nicht entsprechend ausgebildet.
Es ist in diesem Kontext wichtig seine Rechte zu kennen, um diese einfordern zu können. Je besser Menschen mit Behinderungen über ihre Rechte Bescheid wissen, umso weniger ist die Verunsicherung. Menschen mit Behinderungen können dadurch an politischen Prozessen teilnehmen und Gleichberechtigung vorantreiben.
Internationale Herausforderungen
Sprecherinnen und Sprecher der 3. Plenarsitzung:
- Marco Migliosi: European Commission, DirectorateGeneral for Employment, Social Affairs and Inclusion, Unit Disability & Inclusion
- Berta Gonzalez Antón: „Plena inclusión“, Spanien
- Valentine Malou: Universität von Mons, Belgien
Die EU ist in ihrem Ursprung ein Wirtschaftsbündnis, setzt sich jedoch mit sozialen Herausforderungen auseinander. Darunter fällt zum Beispiel Barrierefreiheit (Accessibility act). Es ist wichtig eine gute und stabile soziale Stütze für ein starkes Europa zu schaffen. Die EU kontrolliert immer wieder, ob Gesetze in den Nationalstaaten implementiert werden, aber die Evaluierung braucht Zeit.
Auf diese Kluft zwischen Theorie (Gesetze) und Praxis (Umsetzung) geht auch Berta Gonzalez Antón ein. Sie ist besonders groß, wenn es um Menschen mit hohem Unterstützungbedarf geht. In Spanien gibt es kaum Zahlen zu Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Daraufhin hat „Plena inclusión“ eine Studie in die Wege geleitet. Das Ziel ist Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf aus der Unsichtbarkeit zu führen und sie zu einer hohen Priorität zu machen. Die Frage soll nicht mehr lauten, was Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf machen oder nicht machen können. Der Fokus muss auf dem Unterstützungssystem liegen. Es sollen Menschen nicht nur in eine Community eingeführt werden, sondern die Community an sich muss inklusiv werden.
Um Unterstützungssyteme bemüht sich auch Valentine Malou. Im Projekt „I SAID“ (www.isaid-project.eu) wird die hohe Mobilität zwischen Frankreich und Belgien von Menschen mit Behinderungen erforscht. Viele Menschen mit Behinderungen aus Frankreich (ca. 7000 Personen) migrieren nach Belgien, weil dort bessere Unterstützung gegeben ist. Ziel der Forschung ist herauszufinden, wie und was diese Situation verbessern und erleichtern kann.
Workshops der Lebenshilfe
Manuel Lankmair (Selbstvertreter der Lebenshilfe Hartberg, Österreich) nutzt die Konferenz, um über sein Leben mit hohem Unterstützungsbedarf zu erzählen und beantwortet Fragen vom Publikum. Hier geht’s zur Zusammenfassung.
Als Best Practice Beispiel wurde außerdem das Neue Österreichische Erwachsenenschutzgesetz von Andreas Zehetner, Albert Brandstätter und Bernhard Schmid präsentiert. Es handelt sich dabei um ein Gesetz, welches inklusiv ausgearbeitet wurde und Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung und Autonomie ermöglicht. Mehr Informationen über das Erwachsenenschutzgesetz hier.
- Präsentation zum Erwachsenenschutzgesetz
- Präsentation zum Erwachsenenschutzgesetz aus Perspektive der Angehörigen
Was wir uns von der Konferenz mitnehmen
Sprecherin und Sprecher der 4. Plenarsitzung:
- László Bercse: ÉFOÉSZ, Ungarn
- José Smits: Inclusion Europe; Begründer von „Inclusion Netherlands“
Es gibt 4 Prioritäten, wenn es um die Implementierung der UN-BRK geht:
- Selbstbestimmtes Leben: Viele Menschen mit Behinderungen leben noch in Institutionen. Es braucht Modelle für ein unterstütztes Leben.
- Nationale Vorschriften zu Vormundschaft von Menschen mit Behinderungen: Menschen mit Behinderungen sollen selbst entscheiden können.
- Informationen in Leicht Lesen: für selbstbestimmte Entscheidungen sind entsprechende Materialen notwendig.
- Barrierefreiheit
Zusammenfassend haben wir in der Konferenz leider festgestellt, dass in manchen Ländern:
- die Zahl an Institutionen steigt,
- Kleinkinder mit Behinderungen nicht in die Schule gehen dürfen,
- Menschen mit Behinderungen nicht heiraten dürfen,
- Menschen mit Behinderungen kein Einkommen bekommen,
- nicht selbstbestimmt entscheiden dürfen und
- Dienstleistungen gegeben sind, aber nicht auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen zugeschnitten sind.
Aber es gibt auch positive Veränderungen:
- Es gibt tolle Selbstvertretungs-Initiativen, die von der Regierung konsultiert werden.
- Gute Unterstützungsmodelle werden etabliert.
- Es gibt viele Good-Practices-Beispiele (s. Workshops) zu Deinstitutionalisierung, zu Gesetzen, die mehr Selbstbestimmung, und vieles mehr ermöglichen und von denen wir einiges lernen können.
Diese Konferenz bot die Möglichkeit sich Werkzeuge mitzunehmen und sie in dem eigenen Land anzuwenden.
Die entscheidende nächste Frage für alle lautet:
Was ist der nächste kleine Schritt, der gemacht werden kann, um Inklusion im eigenen Land voranzutreiben?