Ob behindert oder nicht ist ganz egal:
Der Aufruf zu einer reduzierten Lebensführung ergeht an uns alle!
Seit Anfang März werden wir in immer rascheren Zeitabständen eingeladen, aufgefordert, angehalten, bestimmt, unseren gewohnten Lebensstil radikal umzustellen. Von unserem eingespielten Miteinander, sich bei der Arbeit, Freizeit oder kulturellen Anlässen und ehrenamtlichen Einsätzen ungezwungen in unserer Gesellschaft bewegen und dabei täglich persönlich beliebig Mitmenschen treffen zu können, sind wir quasi über Nacht mit einem Stillstand unserer direkten zwischenmenschlichen Austauscherfahrungen konfrontiert worden. Die Vielfalt an direkten, oft bedeutungsvollen persönlichen Kontakten ist zusammengeschmolzen. Einige Menschen finden sich ganz allein wieder, erleben sich sozial isoliert und vereinsamt, andere erleben das tägliche Zusammenleben in der angestammten Kleingruppe ohne die gewohnten sozialen Austauschprozesseaußerhalb dieser als neue Herausforderung.Manche unserer Gewohnheiten im zwischenmenschlichen Zusammenleben werden wir aufzugeben haben. Nun greifen wir systematisch auf virtuelle Kommunikationstechnologien zurück um diesen Verlust auszugleichen. Ob diese Umstellung unserem Grundbedürfnis nach echtem Miteinander gerecht werden kann, bleibt dabei fragwürdig.
Viele dieser Facetten sind Thema in öffentlichen Medien, wobei auffällt, dass die Situation von Menschen mit Behinderungenin der Regel nicht mitreflektiert wird. Menschen mit Behinderungen waren Jahrzehnte lang gewohnt, ihr Leben in von der Allgemeinheit abgeschotteten Milieus, Sonderschulen, Tagesstätten und Wohngemeinschaften für Behinderte, Spezialtransporte und weiter zurückliegend in nun größtenteils vergangenen Großinstitutionen zu führen. Die Reduktion der zwischenmenschlichen Kontakte auf eine kleine, gleichbleibende Gruppe war für sie Alltag, wobei erst in den letzten Jahren mit fortschreitenden Maßnahmen öffentlicher und privater Initiativen zur Inklusion-im Sinne einer Teilhabe in gesellschaftlichen Strukturen -daran gearbeitet wurde, sie aus ihrer Segregation herauszuholen, in Richtung Leben wie andere auch.
Mit dem neuen Mainstream einer reduzierten Lebensführung für alle werden daher auch für manche Menschen mit Behinderungen Erinnerungen an Zeiten hochkommen, in denen sie vieles vermissten, unter anderem, dass sie kein „normales“Leben führen konnten. Die aktuellen Einschränkungen in unseren Freiräumen und die damit einhergehende Gefahr sozialer Beziehungsarmut wird für uns alle neuartige Stresserfahrungen bedeuten, die den langjährigen Erfahrungen unserer Mitmenschen mit Behinderungen sehr nahekommen.
In dieser Periode der kollektiven Herausforderung sollten wir uns daher besonders bemühen, dass Menschen mit intellektuellen Behinderungen und psychischen Beeinträchtigungen aufgrund der derzeitigen Krise nicht wieder diskriminierend behandelt werden. Die Schutzmaßnahmen,zu denen wir aufgerufen sind,bzw. die für uns gelten, sollten allen Menschen zu Gute kommen. Das Motto „Schau auf Dich, bleib zu Hause“ gilt genauso auch für unsere Mitmenschen mit Behinderungen. Die dafür allenfalls im Einzelfall notwendige individuelle Unterstützung und Begleitung ist daher festzustellen und zu gewährleisten.Und wir sollten für die Zeit danach in unserem Erfahrungsschatz bewahren, wie benachteiligend für unsere Lebensqualität durch die Begrenzung des Lebensraums und der sozialen Kontakte sein kann sowienicht vergessen und nachlassen, uns für die Inklusion Aller in unsertägliches Gemeinschaftsleben einzusetzen.