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InklusionNewsPolitik und Recht

COVID-19: Schutzpflichten des Staats

Von Dr.in Carina Pimpel 4. April 2020 Keine Kommentare
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COVID-19: Schutzpflichten des Staats

Von 4. April 2020 Keine Kommentare

Organisationen der Behindertenhilfe und ihre Mitarbeiter*innen leisten einen unersetzlichen Beitrag zur Versorgung von Menschen mit Behinderungen in den schwierigen Zeiten der Corona-Krise. Dennoch ist es zur Minimierung des Risikos einer Infektion mit dem Corona Virus unerlässlich die Kontaktfrequenz in Betreuungseinrichtungen zu senken. Bund und Länder haben allerdings eine Verpflichtung zur weiteren Gefahrenabwehr.

Schutz- und Sorgfaltspflicht der Einrichtungen der Behindertenhilfe

Im Rahmen der allgemeinen Schutz- und Sorgfaltspflichten müssen Einrichtungen der Behindertenhilfe alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen setzen um Schäden an den ihnen anvertrauten Personen– unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechtes- abzuwenden. Das kann unter anderem bedingen Einrichtungsteile – auch ohne behördliche Anordnung – zum Schutz der Personen und zur Entgegnung von Haftungsfällen zu schließen. Dennoch bleibt der Betrieb in Teilen – ähnlich wie bei Schulen – zur notwendigen Versorgung aufrecht.

Gerade in Bezug auf die Pandemie sind viele Bewohner*innen nicht in der Lage die Ansteckungsgefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen – etwa durch tatsächliche Einhaltung der Hygienemaßnahmen – auf sie zu reagieren. Das Risiko einer Infektion ist durch Vorerkrankungen, Immunschwächen, sowie einer größeren Anzahl an möglichen Multiplikatoren, Betreuungswechsel und anderen Mitbewohner*innen bei weitem höher und unter Umständen mit einer Lebensgefahr verbunden.

Die Organisationen sind gut aufgestellt und treffen bereits jetzt alle notwendigen Vorkehrungen für potentielle Erkrankungsfälle. Ein einzigartiges Krisenmanagement lässt den Zusammenhalt erkennen, der in Zeiten wie diesen das volle Potential der mit Hingabe tätigen Personen zeigt. Doch ist es weder möglich noch für das Pflege- und Betreuungspersonal zumutbar, die erforderliche Sicherheit der durch das Corona Virus ausgehenden Gefahr – weitergehend als durch die bereits getroffenen Maßnahmen alleine zu tragen, weshalb der Staat wie im Folgenden dargestellt eine Verpflichtung zur weiteren Gefahrenabwehr trifft.

Staatliche Schutzpflicht: Leben und körperliche Unversehrtheit

Als Hochrisikogruppe sind Menschen mit Behinderungen besonders vom Ansteckungsrisiko und einem möglichen schweren Verlauf mit lebensbedrohlicher Gefahr einer COVID-19 Erkrankung betroffen. Österreich hat im Sinne der Artikel 2, 3, 5 und 8 EMRK sowie des Art 11 UN-BRK die Pflicht, präventive Maßnahmen zum wirksamen Schutz einer Ansteckung von Menschen mit Behinderungen als besonders schutzbedürftiger Personengruppe zur Wahrung deren physischer und psychischer Integrität und zum Schutz der persönlichen Freiheit und Sicherheit zu ergreifen. Anders als die UN-BRK steht die EMRK im Verfassungsrang!

In den Entscheidungen BUDAYEVA et alii gegen Russland[1] als auch Öneryildiz gegen die Türkei[2] wurde durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klargestellt, dass Staaten eine positive Verpflichtung trifft, angemessene Schritte zum Schutz des Lebens der seiner Jurisdiktion unterworfenen Personen zu setzen.[3] Die Verpflichtung umfasst in erster Linie die Pflicht zur Schaffung rechtlicher und administrativer Rahmenbedingungen, welche wirksame Abhilfe gegen Bedrohungen des Lebens schaffen.

Art 11 UN-BRK verpflichtet Österreich alle in Zeiten der Pandemie erforderlichen Maßnahmen zu treffen um den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Aufgrund der bisherigen bekannten Krankheitsverläufe und der Ausbreitungsgeschwindigkeit handelt es sich um eine eindeutig erkennbare Gefahr.


Notwendige Vorkehrungen und Maßnahmen

  1. Die Gewährung notwendiger Unterstützungsleistungen von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen bzw. nahe stehenden Personen um den Aufenthaltsort und die pandemiebedingte örtliche Veränderung( iS der Betreuung/Unterstützung zu Hause) vornehmen zu können, die Kontaktfrequenz zu minimieren und das Ansteckungsrisiko durch Multiplikatoreneffekte zu verringern, muss sichergestellt werden.

Grundsatz muss dabei sein, dass die betroffenen Menschen mit Behinderungen die bisher in Tagesstrukturen betreut wurden und pandemiebedingt zeitweilig von Angehörigen oder nahe stehenden Personen zu Hause betreut werden, die für sie passenden und notwendigen Unterstützungsleistungen (wie Sonderfreistellungen, finanzielle Unterstützungen, Assistenzleistungen)erhalten, um präventiv schwere und nachhaltige Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder des Lebens abzuwenden.

Im Hinblick auf die staatliche Schutzpflicht müssen Möglichkeiten geschaffen werden, die selbstständigen als auch unselbstständigen Angehörigen oder nahestehenden Personen eine Betreuungsübernahme von Menschen mit Behinderungen ermöglicht. Ganz unabhängig davon, ob eine Einrichtung der Behindertenhilfe aufgrund einer behördlichen Anordnung oder „freiwillig“ (richtig zum Wohl der Betroffenen im Sinne der Schutz-und Sorgfaltsverpflichtung) geschlossen wird.

  1. Es bedarf einer sichergestellten und auseichenden Finanzierung von Organisationen der Behindertenhilfe mit Rechtsanspruch. Hier sollte eine Anwendbarkeit des Epidemiegesetzes gegeben sein.

Keinesfalls darf es zu einer Kürzung des Taschengeldes, der Fehltage oder der Tagsätze kommen. In Einrichtungen der Behindertenhilfe muss seitens des Staates adäquate Schutzausrüstung in ausreichender Menge zum Schutz der sich in Wohnhäuser und Werkstätten befindlichen Menschen mit Behinderungen und der Mitarbeiter*innen zur Verfügung gestellt werden.

  1. Im Krankheitsfall ist zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen adäquat medizinisch versorgt Spezialambulanzen, die mit behinderungsbedingt erschwerten Diagnosen vertraut sind sollten soweit wie möglich ausgewiesen sein und über ausreichend Kapazitäten verfügen bzw. für einen Know How Transfer sorgen. Im Falle eines Krankenhausaufenthalts ist zu gewährleisten, dass VertrauenspersonenMenschen mit Behinderungen begleiten dürfen, darauf soll ein Anspruch bestehen, da es anderenfalls zu traumatischen Erlebnissen kommen könnte.

Es muss sichergestellt werden, dass Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit hohem und komplexem Unterstützungsbedarf, keinesfalls von vornherein aufgrund ihrer Behinderung eine intensivmedizinische Behandlung, wie zum Beispiel eine künstliche Beatmung, verwehrt wird.Behinderungsbedingte Vorerkrankungen oder Immunschwächen dürfen kein Ausschlusskriterium einer adäquaten medizinischen Behandlung dieser Risikogruppe darstellen. Die Lebenshilfe fordert eine verbindliche medizinische Direktive im Sinne der Stellungnahme der Bioethikkommission „Manche Personen benötigen eine spezielle Unterstützung, um ihr formales Grundrecht auf Leben und die damit verbundene medizinisch indizierte Behandlung effektiv wahrnehmen zu können, z. B. wenn sie eine physische oder psychische bzw. kognitive Einschränkung haben. In solchen Fällen ist nicht nur eine gleiche, sondern eine spezielle und damit unter Umständen auch höhere Ressourcenaufteilung nötig, damit diese Personen dieselbe Chance haben wie Menschen ohne Einschränkung.“[4]

  1. Sollte es zu einer Betreuung in Einrichtungen der Behindertenhilfe kommen – Isolierstationen – ist jedenfalls sicherzustellen, dass ausreichend Mitarbeiter*innen oder externe Kräfte über die notwendigen einschlägigen Pflegequalifikationen entsprechend dem Gesundheits- und Krankenpflegegesetz zur Verfügung gestellt werden ein ärztliches Versorgungsnetzwerk im Sinne des ÄrzteG vorhanden ist. Organisationen der Behindertenhilfe müssen hier entsprechend abgesichert sein, um nicht in die Haftung zu kommen, falls eine derartige Struktur nicht zur Verfügung gestellt wird. Hier bedarf es klarer Regelungen.

 

 

[1] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Budayeva u.a. gegen Russland, Urteil vom 20.3.2008, Bsw. 15339/02, Bsw. 21166/02, Bsw. 20058/02, Bsw. 11673/02 und Bsw. 15343/02.

[2] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Öneryildiz gegen die Türkei, Urteil vom 30.11.2004, Bsw. 48939/99.

[3] Vgl. Hiersche, Alexander. Sanitätspolizeiliche Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. http://othes.univie.ac.at/9726/1/2010-03-02_0207570.pdf S.44ff. [24.03.2020]

[4] Bioethikkommission, Zum Umgang mit knappen Ressourcen in der Gesundheitsversorgung im Kontext der Covid-19-Pandemie, März 2020, S. 6,https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/bioethikkommission/publikationen-bioethik.html [3.04.2020]

 

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AutorDr.in Carina Pimpel

Inklusionspolitik, Lebenshilfe Österreich

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