Presseaussendung
(Wien, 01.12.2020) Die Lebenshilfe präsentierte die neue Studie „2-Säulen-Modell: Einkommen und Bedarfssicherung für Menschen mit Behinderungen“ zur chancengleichen Teilhabe am Arbeitsmarkt, die den momentanen gesetzlichen Rahmen aufschlüsselt. Anlässlich des jährlichen „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“ am 3. Dezember fand die virtuelle Pressekonferenz für Gehalt statt Taschengeld mit Unterstützung des Presseclub Concordia am 01.Dezember 2020 um 14 Uhr statt.
Inklusiver Arbeitsmarkt, positive Bewertung des Gesundheitszustandes
Die Studie der Lebenshilfe geht von einem 2-Säulen-Modell und einer ressourcen- und fähigkeitsorientierten Bewertung des Gesundheitszustandes von Menschen mit Behinderungen aus. Ziel ist ein durchlässiger inklusiver Arbeitsmarkt und die reguläre und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aller Personen, die auf Taschengeldbasis (in Werkstätten) beschäftigt sind.
Behindertenpolitik neu gedacht – Teilhabe statt Wohltätigkeit
Das 2-Säulen-Modells kann als Fundament einer Umgestaltung der derzeit karitativ ausgerichteten Behindertenpolitik hin zu einer auf Ermächtigung und Teilhabe ausgerichteten Behindertenpolitik verstanden werden. Die Einkommens-Säule sichert die Existenz, die Bedarfssicherungs-Säule deckt den behinderungsbedingten Mehraufwand (soziale Dienste, Hilfsmittel, Pflegegeld, persönliches Budget, persönliche Assistenz, steuerliche Begünstigungen)ab. Voraussetzung ist ein Lohnkosten-Zuschuss- sowie ein adaptiertes Normkostenmodell-Modellder Kalkulation von Tagsätzen von sozialwirtschaftlichen Unternehmen, die als freie Träger der Behindertenhilfe Menschen mit Behinderungen regulär beschäftigen.
Link zum Press Kit zur Erklärung des 2-Säulen-Modells: lebenshilfe.at/downloads/pressemitteilungen
Der Press Kit beinhaltet folgende Materialien:
Plakat > eine visuelle Darstellung der Wirkweise des 2-Säulen-Modells
Zusammenfassung > in leichter Sprache, liefert einen groben, gut verständlichen Überblick
Ausführliche Zusammenfassung > beleuchtet auch Details der Studie
Häufige Fragen > dieses Dokument beantwortet sämtliche Fragen zum 2-Säulen-Modell
Studie > die gesamte Version der Studie ist als umfangreichstes Dokument zum 2-Säulen-Modell einsehbar
ExpertInnen fordern 2-Säulen-Modell und Gehalt statt Taschengeld
Hanna Kamrat, Vizepräsidentin Lebenshilfe Österreich:„Gehalt statt Taschengeld ist für mich, gerade jetzt in und nach der Corona-Zeit besonders wichtig. Ich habe dadurch die Möglichkeit, Assistenzstunden nach meinem Bedarf dazuzukaufen. Ich bin nicht von den mir zugeteilten Stundensätzen des Bundeslandes abhängig.
Gehalt statt Taschengeld bedeutet für mich: Meine ganz persönlichen Bedarfe, wie Wohnung, Kleidung, Telefon, Freizeitaktivitäten oder Urlaub unabhängig von meiner Familie oder der öffentlichen Zuteilung des Bundes-Landes (Pensionsversicherung, Waisenrente, Pflegegeld usw.) selbstbestimmt und selbstverantwortlich verwalten und ausgeben kann. Bei Bedarf habe ich einen Unterstützerkreis mit dem ich mich beraten kann.
Selbstversichert zu sein und ein eigenes Gehalt zu haben, bedeutet für mich Unabhängigkeit von meiner Familie und den Angehörigen. Ich übernehme die volle Verantwortung für alle Gesundheitsbereiche selbst und kann eigenverantwortlich Entscheidungen treffen. Z.B. Zahnarzt, Reha-Aufenthalte, Therapieanwendungen, Gesundheitsvorsorge.“
Albert Brandstätter, Generalsekretär Lebenshilfe:„Gerade in COVID-Zeiten ist es wichtig, an wesentliche Alltagssituationen einer häufig vergessenen Gruppe von Personen, nämlich Menschen mit intellektueller Behinderung zu erinnern. Und da ist eine der wichtigsten Herausforderungen, diesen Personen Lohn statt Taschengeld für ihre Arbeitsleistung zu schaffen. Es gilt gerade jetzt die Arbeit die die Regierung bereits begonnen hat weiterzuführen. Dafür schaffen wir mit unserer Studie und dem daraus resultierenden 2-Säulen-Modell eine Grundlage, wie behinderten-relevante Themen zeitnah aufgegriffen werden können. Wir empfehlen eine Task-Force, die mit der Ministeriumsarbeit einher geht, eine Umsetzungsgrundlage schafft und diese akkordiert mit den relevanten Stakeholdern umsetzt.“
Nikolaus Dimmel, Studienautor, Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Salzburg: „Das 2-Säulen-Modell beruht in seiner ersten Säule auf einer sozialversicherungspflichtigen, kollektivvertraglich entlohnten Beschäftigung innerhalb des Rahmen des Individualarbeitsrechts. Grundlage kann ein ergänzter SWÖ-KV auf Grundlage der Einigung der Sozialpartner über den Mindestlohn für Alle (2020: 1.500 brutto) sein. Entlohnt wird nicht die Produktivität, sondern die Bemühung der Arbeitenden sowie die Zeit der Verrichtung von Arbeit. Die Finanzierung der Entlohnung der Arbeitenden beruht auf der eigenwirtschaftlichen Tätigkeit des Sozialdienstleisters Lebenshilfe sowie Lohnkostenzuschüssen der öffentlichen Hand. Den Beschäftigten sollen sämtliche Leistungen des Ausgleichstaxfonds zugänglich sein. Die zweite Säule sichert behinderungsbedingte Geldleistungen (derzeit: Pflegegeld; später: Inklusionsgeld) sowie Sach- und Dienstleistungen zusätzlich zum Erwerbseinkommen. Das 2-Säulen-Modell ist in einen erweiterten, durchlässigen Arbeitsmarkt eingebettet, in dem die Lebenshilfe inklusive Betriebe führt, Arbeitskräfte gemeinnützig überlässt und begünstigte Personen am Arbeitsmarkt platziert und begleitet. Die Finanzierung soll durch einen Inklusionsfonds erfolgen. Werden die Beschäftigten aus der langfristigen Abhängigkeit vom zweiten sozialen Netz der Sozialhilfe in das erste soziale Netz der Sozialversicherung überführt, so bedarf es zweifellos einer Reihe legistischer Anpassungen. Zugleich entfallen eine Reihe von Begünstigungen.“
Carina Pimpel, Studienautorin, Juristin, Inklusionspolitik Lebenshilfe Österreich: „Das 2 Säulen Modell hat zum Ziel festgefahrenen Strukturen aufzubrechen und soziale Ungleichheit von Menschen mit Behinderungen durch berufliche sowie gesellschaftliche Teilhabe zu beseitigen. Gerade in Zeiten wie diesen muss Inklusion als wesentlicher Grundbaustein unserer Gesellschaft anerkannt und als gemeinschaftlicher Wert etabliert werden. Menschen mit Behinderungen dürfen nicht länger durch lebenslange Abhängigkeit von Unterhalts- und Sozialleistungen von einem inklusiven Leben ausgeschlossen werden.
Es braucht einen Umbruch von der karitativen hin zu einer auf Ermächtigung basierenden Behindertenpolitik durch Verankerung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in den behindertenrechtlichen Materien der Bundesländer als durchsetzbarer Rechtsanspruch. Damit wird der Grundstein eines inklusiven und durchlässigen Arbeitsmarkt ohne Unterteilung mit flexiblen Übergängen zwischen Nichtbeschäftigung, Beschäftigung in Werkstätten/Unternehmen von Social Profit Unternehmen, Beschäftigung im Rahmen einer Arbeitskräfteüberlassung sowie im Rahmen eines ´Placement` am ersten – sodann nunmehr inklusiven – Arbeitsmarkt geschaffen, so Carina Pimpel Juristin und Leitung der Inklusionspolitik der Lebenshilfe Österreich.“
Friederike Pospischil, Präsidentin Lebenshilfe Niederösterreich, Angehörigenvertreterin:„In der Früh aufstehen, sich fertigmachen für die Arbeit, sich auf dem Wegmachen, am Arbeitsplatz ankommen, seine Kolleg*innen treffen, 8:00 Arbeitsbeginn, das von Montag bis Freitag, eine Woche, einen Monat lang. Dafür dann am Monatsende einen Gehalt auf dem Konto vorfinden. Klingt doch nach einem Ablauf wie ihn die meisten von uns kennen. Aber es gibt eine Gruppe von erwachsenen Menschen in Österreich für die das alles stimmt, bis auf den Umstand das am Monatsende kein Gehalt auf dem Konto liegt, nämlich Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten ihrer Arbeit nachgehen. In Österreich wird ihre Arbeit nicht als Arbeit gewertet. Obwohl sie so wie andere Menschen täglich in der Früh aufstehen usw., sie Grünflächen pflegen, Straßen reinigen, Industriebetrieben zuarbeiten etc… Sie bekommen für ihre Arbeit nur ein Taschengeld, in NÖ heißt das Anerkennungsbeitrag und beträgt dzt. Rund € 70,- monatlich. Sonst sind sie auf ihre Eltern angewiesen, wenn diese Sterben bekommen sie dann eine Waisenpension und damit auch erstmals eine eigene Sozialversicherung. Sie bleiben also, wenn man so will für immer im Status von Kindern, egal wie alt sie sind. Was noch zu sagen ist, dass die Eltern dieser Menschen für die Arbeit, die ihre erwachsenen Kinder in den Werkstätten leisten, auch noch zahlen müssen. Als Eltern von Menschen mit Beeinträchtigung, die in den Augen unserer Gesellschaft als nicht selbsterhaltungsfähig gelten sind sie ihr ganzes Leben zum Unterhalt verpflichtet. Bis zu 20% des Nettoeinkommens können von den Behörden für die Arbeit und Begleitung in den Werkstätten von den Eltern gefordert werden. Das alles ist so rasch wie möglich zu ändern, erwachsenen Männern und Frauen einen Lohn für ihre Arbeit zu zahlen, Männern und Frauen die auf Grund ihrer Behinderung keiner Arbeit nachgehen können eine erwachsenen Menschen würdige Grundversorgung zu gewährleisten, das fordern die Eltern und Angehörigen. Mit der vorliegenden Studie „Lohn statt Taschengeld“ hat die Lebenshilfe Österreich einen Weg gezeigt, wie Menschen mit Behinderungen zu einem unabhängigen, selbstbestimmten Leben inmitten unserer Gesellschaft kommen können. Als Präsidentin der Lebenshilfe NÖ und als Mutter eines erwachsenen Sohnes mit Behinderung begrüße und unterstütze ich die Lebenshilfe dabei.“
Georg Willeit, Geschäftsführer Lebenshilfe Tirol: „Tag für Tag verlässlich arbeiten und am Ende des Monats keinen Gehalt bekommen. Für Menschen mit Behinderungen ist das vielfach Realität. Sie arbeiten in Cafés, verschrauben Metallteile oder erbringen wertvolle Dienstleistungen für die Gemeinschaft und erhalten dennoch nur ein Taschengeld“, schildert Lebenshilfe Tirol Geschäftsführer Georg Willeit die Situation von rund 23.000 Menschen mit Behinderungen. „Und das, obwohl das klar der UN-Behindertenrechtskonvention widerspricht, der Österreich vor 12 Jahren beigetreten ist. Zusätzlich problematisch ist, dass sie nicht eigenständig arbeits-, kranken- und pensionsversichert“, so Willeit weiter.
„Anstelle von diversen Transferleistungen plädieren wir für Gehälter plus einer individuellen Unterstützung, die den persönlichen Assistenzbedarf abdecken. Es ist eine Frage der Wertschätzung, ob erwachsene Menschen einen Gehalt bekommen oder in die Beihilfenfalle tappen“, so Lebenshilfe Tirol Geschäftsführer Georg Willeit, der für eine grundsätzliche Veränderung der Unterstützungsleistungen eintritt. „Gehalt statt Taschengeld für Menschen mit Behinderungen ist vielmehr die längst überfällige Basis für weitere inklusive Schritte in die Arbeitswelt und gesellschaftliche Teilhabe. Der grundlegende Gedanke ist ganz einfach: Erwachsene mit Behinderungen sind keine Kinder, sie wollen auch nicht so gesehen und auch nicht so behandelt werden. Kinder bekommen Taschengeld, Erwachsene nicht.“