Premiere: Menschen mit Beeinträchtigungen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz haben eine gemeinsame Deklaration für mehr Inklusion und Barrierefreiheit verfasst.
Eine „Weltpremiere“ nennt Friedrich Gföllner aus Vorarlberg, was sich gestern in Überlingen im Rahmen der Aktionswochen „Mittendrin“ für Menschen mit Beeinträchtigungen abspielte. Im Vorfeld des Fests der Begegnung „Mittendrin“ im Juni 2016, organisiert vom Landratsamt des Bodenseekreises/D, waren ein Dutzend SelbstvertreterInnen aus drei Ländern zusammengekommen und haben eine gemeinsame Deklaration erarbeitet.
Die Forderungen nach besserer Integration und mehr Barrierefreiheit werden am Samstag an den neuen baden-württembergischen Sozialminister Manfred Lucha übergeben.
Einen ganzen Tag lang waren die Vertreter aus Vorarlberg, der Schweiz und der deutschen Bodenseeregion zusammengesessen, um gesellschaftliche Defizite zu benennen und gemeinsam ihre Interessen zu formulieren.
„Eine Frage ist, wie wir uns in die Gesellschaft einbringen können“, sagt Sebastian Dierig: „Aber auch was die Gesellschaft für uns tun kann.“ Ein zentrales Anliegen ist dabei zunächst, bei wichtigen Entscheidungen auch mitbestimmen zu können. „Nicht ohne uns über uns“ lautet hier der Grundsatz, den die Menschen mit Handicap berücksichtigt wissen wollen. Nur so können sie ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft finden, wie dies in der UN-Konvention eingefordert wird.
Für eine echte Teilhabe bedarf es jedoch einer Barrierefreiheit auf verschiedenen Ebenen. Nicht nur bei der Mobilität für Rollstuhlfahrer wie Klaus Brunner aus Götzis, der Selbstvertreter der Lebenshilfe in Vorarlberg ist. Auch bei der Sprache gibt es viele Barrieren. „Wenn bei uns eine Volksabstimmung ist, verstehe ich oft den Text dazu nicht“, sagt der Vertreter aus St. Gallen: „Da macht es ja gar keinen Sinn, dass ich an der Abstimmung teilnehme.“ Wobei sich alle einig sind, dass das Prinzip „leichte Sprache“ auch anderen Menschen das Leben erleichtern könnte.
„In den Medien ist Integration und Inklusion viel zu selten Thema“, sagt Klaus Brunner. Vor allem werde dann das Bild von „den armen Menschen“ gezeichnet. „Wir sind keine armen Menschen“, betont er: „Wir sind Menschen mit einer Behinderung.“ Auf der anderen Seite könnten auch Menschen mit Handicap der Gesellschaft etwas geben. Wie Michaela Bommer aus Wittenhofen, die stolz darauf ist, dass sie zweimal pro Woche in einem Pflegeheim arbeitet. Handlungsbedarf gibt es auf allen Seiten. „Wir müssen uns auch an die eigene Nase fassen“, sagt Klaus Brunner, „und einfach mehr rausgehen und aktiv werden.“
Zur Bodenseedeklaration: bodenseedeklaration_final_mit_namen
Text in einfacher Sprache:
Bodensee-Erklärung: Nichts über uns ohne uns
Die Erklärung wurde von Selbst-Vertretern erarbeitet.
Die Selbst-Vertreter kommen aus drei Ländern.
Die Länder sind Österreich und Schweiz und Deutschland.
Die Erklärung ist vom 21. Juni 2016.
Einleitung
Gemeinsam sagen wir:
- Wir rücken immer mehr vom Rand der Gesellschaft in die Mitte.
- Wir bringen uns aktiv in die Gesellschaft ein.
- Wir fordern Barriere-Freiheit und Unterstützung.
- Die Barrieren sollen bei Straßen und Gebäuden fallen.
- Die Barrieren sollen auch in den Köpfen fallen!
Wir haben in verschiedenen Lebens-Bereichen Forderungen erarbeitet.
Die Forderungen sind hier aufgeschrieben:
Mitbestimmen und Mitentscheiden
- Viele von uns leben und arbeiten in Organisationen.
- In einigen Organisationen können wir schon mitbestimmen.
- Menschen mit Behinderung sollen im Vorstand dabei sein.
- Menschen mit Behinderung sollen abstimmen dürfen.
- Wir wünschen uns mehr als die Hälfte Menschen mit Behinderungen im Vorstand.
- Wir wünschen uns von den Einrichtungen Unterstützung.
Teilhabe an der Politik
- Auch wir sind Bürger.
- Wir wollen zum Wählen gehen.
- Wir haben das Recht an der Politik teilzunehmen.
- Wir wollen Menschen mit Behinderung in der Politik haben.
- Wir hoffen, Menschen mit Behinderungen wollen Politiker sein.
Barriere-Freiheit
- Wir wollen unsere Pflichten als Bürger erfüllen.
- Wir wollen alle Informationen in Leichter Sprache.
- Zum Beispiel Anträge und Formulare.
- Wenn Wahlen sind, sollen Wahllokale barrierefrei sein.
- Der öffentliche Raum soll für alle Menschen zugänglich sein.
- Es soll abgeschrägte Geh-Steige und Rampen und Aufzüge geben.
- Das soll in öffentlichen Gebäuden und in Restaurants und Geschäften sein.
- Dasselbe soll für Busse und Züge gelten.
- Wir fordern mehr Bus-Verbindungen und Fahr-Dienste.
- Wir wollen in den Ortschaften leben.
- Dort treffen wir viele Menschen.
- Das erleichtert uns den Alltag.
- Wir fordern bezahlbare und barrierefreie Wohnungen.
Bildung von Bewusstsein
- Leider werden wir immer noch beschimpft und ausgegrenzt.
- Die Vorurteile gegenüber uns sind groß.
- Wir wünschen uns mehr Respekt und Toleranz.
- Das erreicht man durch Gespräche und Zusammen-Sein.
- Das kann in Kindergärten und Schulen passieren.
- Und wenn wir gesellschaftliche Ereignisse mitgestalten.
- In den Medien soll ein neues Bild von uns gezeigt werden.
- Unser Leben soll wichtig sein.
- Die Behinderung soll nicht wichtig sein.
- Auch wir selbst sollten aktiv Medien gestalten.
- Damit wir die Medien nutzen können, fordern wir Barrierefreiheit.
- Für uns ist wichtig: Untertitel, Gebärdensprache, Hörfilmfassungen, leichte Sprache.
Schluss-Satz
Wir freuen uns auf die Zeit, in der wir nicht mehr am Rande der Gesellschaft leben, sondern „Mittendrin“.
Überlingen, 25. Juni 2016
Kontakt: selbstvertretung@lhv.or.at